Der zeitgeschichtliche Aspekt

IV.

Der zeitgeschichtliche Aspekt

1.

Die Petitionsinitiative führt in ihrem Namen die beiden Jahreszahlen
1989 und 2009. Mit letzterer ist der Beginn der Legislatur des
17. Deutschen Bundestages bezeichnet; an ihn richtet die Initiative
ihre Forderungen. Frühere Erfahrungen haben aber gezeigt, dass das
Anliegen, das seit 1984 jedem folgenden Bundestag vorgelegt wurde,
mehrmals ganz ans Ende der jeweiligen Periode geschoben und
dann ohne die zur Besinnung der Sache nötige Zeit weggestimmt oder
- wie vom 16. Bundestag - gleich gar nicht mehr behandelt wurde.
Deshalb hat die Initiative dieses Mal schon zur Wahl alle Kandidaten
und Kandidatinnen mit der »Gretchenfrage« konfrontiert. Der damit
ausgelöste und noch nicht abgeschlossene Diskurs ist publiziert.

2.

Zum 9. November 2009
wurde die Petition allen Gewählten persönlich mitgeteilt und förmlich an
den Petitionsausschuss eingereicht. Mit dieser Terminbetonung soll zum
einen deren erste Forderung, ein mit dem Datum des 9. Novembers fix
verknüpftes volkspädagogisches Projekt, unterstrichen werden.

Zum andern will sie Anregung sein, anlässlich des 20. Jahrestags des
historischen Ereignisses des 9. Novembers 1989 die Reflexion und
den gesellschaftlichen Diskurs über dessen soziale, nationale und
weltgeschichtliche Bedeutung
zu vertiefen und im Blick auf die Fragen
der damit verbundenen kollektiven Identitäten und Verantwortungen
im 21. Jahrhundert und der ferneren Zukunft zu erweitern.

3.

Dazu lenkt die Petition jenseits persönlicher Geschichten und
emotionaler Eindrücke von an diesem Ereignis beteiligter Menschen
die Aufmerksamkeit auf den begrifflich-historischen Impulskern, wie
er - ohne feststellbare direkte Quelle - zum ersten Mal am 9. Oktober
1989 bei der Demonstration der 70 000 in Leipzig in dem Ruf
»Wir sind das Volk«
auftrat. Und sie bedenkt diesen Ruf im Kontext der deutschen
Demokratiegeschichte der Neuzeit. Denn die Tatsache, dass diese
Devise nach dem 9. November von heute auf morgen von anderen
Parolen, die den weiteren Gang der Dinge von der ursprünglich
souveränitäts-demokratischen auf die vereinigungs-staatliche
Perspektive lenkten, so leicht verdrängt werden konnte: Zeigt das
nicht, dass in den Massendemonstrationen keine Erkenntnis des
ordnungspolitisch-systemischen Kerns
dessen lebte, was eben noch
skandiert worden war und man sich vielmehr durchwegs von
westlichen Protestformen und meist auch von den entsprechenden
Interessenmustern leiten ließ?

3.1

Hiermit weist die Petition auf ein noch nicht kritisch beleuchtetes Kapitel
der Vorgänge vom Herbst 1989 hin. Sie stellt der bis heute verbreiteten
Sicht auf diese Ereignisse eine andere, ideen- und tatsachengestützte
»Logik« gegenüber. Diese »Logik« folgt aus einer ideologiefreien,
realistischen Geschichtskunde, die dann, wenn man sie vorurteilslos prüft,
trotz aller nationalen Irrwege und schuldhaften Verstrickungen zu einem
neuen, selbstkritisch-weltbürgerlichen Bild deutscher Geschichte gerade
für die Zeit der zweiten Hälfte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts und
insbesondere der Nachkriegsjahrzehnte bis zur Gegenwart ermutigt.

Und dabei kommt dem Jahr 1989 dann eine Schlüsselrolle zu.
Denn wäre erkannt worden, welches »Tor« eigentlich die Devise vom
9. Oktober hätte öffnen können und müssen, dann wäre nämlich eine
weltgeschichtlich relevante und durchaus auch nationalgeschichtlich
verankerte zeitgemäße »deutsche Oktoberrevolution« möglich gewesen
und zwar durchaus als eine »friedliche Freiheitsrevolution«.

[Wie besonders der seinerzeitige bundesdeutsche Außenminister Genscher bei jeder
sich bietenden Gelegenheit nicht müde wird, die Ereignisse in der DDR vom Herbst
1989 zu charakterisieren; was aber in seinem Fall voraussetzt, dass man die
Begriffe »Revolution« und »Freiheit« in wirtschafts-liberal-ideolo­gischer Lesart
am Muster des gesellschaftlichen Systems der BRD orientiert – was aber nicht nur
hinterfragtwerden darf, sondern hinterfragt werden muss; nicht anders als die
SED-ideologische Behauptung, die Entwicklungen während des Herbstes 1989,
die schließlich zum Ende des ostdeutschen Regimes führten, seien von
»konterrevolutionären Tätigkeiten« gesteuert gewesen.] 

3.2

Hätte die tragende Bewegung einer »deutschen Oktoberrevolution« mit dem
Ruf »Wir sind das Volk« das klare demokratietheoretische Bewusstsein zu
verbinden gewusst, was dieser Ruf in seiner staatsrechtlichen Konsequenz
zu bedeuten hatte, dann wäre damit auch aus der Sicht der authentischen parteiphilosophischen Identität der DDR auf den Punkt genau zugleich
erfüllt gewesen, was der junge Marx [vier Jahre vor 1848!] im Auge hatte,
als er in seiner Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«
die Frage aufwarf, wie »Deutschland zu einer Revolution gelangen könne,
die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker, sondern
auf die menschliche Höhe ...« erheben würde. Das wäre, schrieb Marx
schon vorher in dem Aufsatz »Zur Judenfrage« [1843], möglich, wenn
der Mensch »seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche« erkennen,
organisieren und »die gesellschaftliche Kraft in Gestalt der politischen
nicht von sich trennen«, also nicht einer anderen Instanz überlassen würde;
dann, so Karl Marx 1843, sei »die menschliche Emanzipation vollbracht.«

3.3

Würde das nur als philosophiegeschichtliche Reminiszenz erwähnt, gäbe
es keinen Anlass, es im Rahmen einer Petition zur verfassungs-rechtlichen
Implementierung der »dreistufigen Volksgesetzgebung« in den Jahren
2009 ff mit dem Gewicht zu betonen, wie es hier geschieht.
Es ist damit aber viel mehr in den Blick genommen.

Man hört ja immer wieder die Behauptung, 1989 habe niemand geahnt,
geschweige denn vorausgesehen, was dieses Jahr für die deutsche
Situation oder gar darüber hinaus bringen werde. Auch die in jener
Zeit agierenden »Staatsmänner« bekunden das bis heute in ihren
Erinnerungen durchwegs. Was bisher in allen Rückblicken – offenbar
eher aus Unkenntnis denn aus bewusster Ignoranz – jedoch unerwähnt
geblieben ist, das ist das Folgende:
>> Es wurde in »deutschen Landen« nicht nur in dem Sinne gedacht,
wie es in dem angeführten Marx-Zitat formuliert ist: also die eigene
Kraft als gesellschaftliche zu erkennen und zu organisieren, sie nicht
mehr von der politischen zu trennen, vielmehr mit dieser zu vereinigen!
>> Es wurde diese »Revolution«– beiderseits der Grenze – ab 1987,
also Monate bevor das Machtsystem in der DDR kollabierte, zum
40. Geburtstag des SED-Staates [7. 10. 1989] auch konkret projektiert.

3.4

Das war – wie zuvor der 23. Mai in der BRD – für den, der im »Buch
der Geschichte« zu lesen verstand, unabhängig von anderen äußeren
Ereignissen Hinweis genug, um zu erkennen, dass es im 40. Jahr der
Teilung und im 28. der Errichtung der Mauer »an der Zeit« war,
zur Überwindung der Ost-West-Spaltung
Deutschland als Brücke geistig, sozial und politisch neu zu begründen
[anstatt nur Reagans »Mr. Gorbatschow, tear down this wall« nachzubeten].

  [Diesem Ziel galt 1988 bereits die >> hier mitgeteilte Petition vom
23. Mai 1988 mit dem Vorschlag, den „17. Juni“ als bisherigen
„Nationalfeiertag“ der BRD durch den „23. Mai“ als „Verfassungstag“
zu ersetzen.]

 Das setzte für den entscheidenden ersten Schritt der Einleitung einer
zukunftsoffenen Perspektive voraus, dass es die vorgegebenen sozusagen
staatsgeologischen
»Bodenverhältnisse« beiderseits zulassen würden,
für eine solche Brücke ein tragfähiges Fundament zu errichten.

Die Erforschung der entsprechenden konstitutionellen »Schichten«
ergab: In der
BRD wie in der DDR waren die Voraussetzungen für
ein solches Vorhaben in den »real-existierenden« Gegebenheiten
vorhanden: sowohl den historischen Wurzeln nach im Blick auf
die erste deutsche Republik, die »Weimarer« [1919*], als auch
im Vorgegebenen der beiden Gründungsverfassungen von 1949!

3.5 

Der Vergleich zeigte, dass – bei allen sonstigen Unterschieden
– weder in der BRD noch in der DDR   »das Volk« hinsichtlich der
Gesetzgebungen
als demokratischer Souverän selbstbestimmt
aktiv werden konnte. Das war in verfassungsrechtlicher
Hinsicht übereinstimmend der Befund! Trotzdem sah man
sich,
wenn auch ganz unterschiedlich, hüben wie drüben
der»Demo­kratie« ideologisch verpflichtet:

Im Westen gab es zwar einen grundrechtlich gestützten
Rechtsstaat
mit einer parlamentarischen Ord­nung, einem
pluralistischen Parteiensystem
und freien Wahlen als Kern des
Demokratiebe­griffs
. Aber für das plebiszitäre Element des
Abstimmungsrechtes des Volkes [GG Art. 20 Abs. 2] gab es kein
ausführendes Gesetz. Es konnte nicht ergriffen werden.

Im Osten existierten dagegen weder Grundrechte, noch
eine rechtstaatlich-parlamentarische Ordnung mit freien
Wahlen noch ein pluralistisches Parteiensystem.
Doch in der
Gründungsverfassung der Republik war der
Volksgesetzgebung,
einer Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung [1869!],
eine markante Stellung eingeräumt. [Die
entsprechenden
Regelungen waren aus der Weimarer Reichsverfassung,
der
in dieser Hinsicht progressivsten europäischen
Konstitution
nach dem I. Weltkrieg,
übernommen.]

Freilich fehlten auch hier die Ausführungs­bestimmungen,
sodass das
Initiativ- und Abstimmungsrecht des Volkes,
wie verfassungsrechtlichvorgesehen, nie aktiviert werden konnte.
Trotzdem kam aus dieser Gesellschaft niemals die Forderung auf, die
Volkskammer möge ein Ausführungsgesetz beschließen
[während »freie Wahlen«, die verfassungsrechtlich nicht vorgesehen
und insofern in der DDR ein systemfremdes Element waren,
zum Beispiel schon beim Aufstand am 17. Juni 1953 verlangt
wurden (s. FN 1)]. Was insofern verwundert, als ja das plebiszitäre
Element der Volksgesetzgebung in den ersten Jahren nach 1945
in der SBZ
[siehe Weimarer Memorandum, Kapitel III], also schon
vor der Staatsgründung, mehrfach eingesetzt worden war und
eben auch [bis 1968] in der Gründungsverfassung der DDR
figurierte. Ganz anders als in den westlichen Besatzungszonen,
wo zum Beispiel ein von den Deutschen in Hessen durchgeführter
Volksentscheid von den Amerikanern annulliert wurde
[siehe Weimarer Memorandum, Kapitel III] .

Schon im Parlamentarischen Rat (1948/49) gab es quer
durch die Parteien starke Vorurteile gegen die plebiszitäre Demokratie.
Völlig unbegründet mussten die sog. »Weimarer Erfahrungen«
für Polemik gegen die Volksgegesetzgebung herhalten, was
schließlich dazu führte, dass bis heute allgemein die Ansicht
herrscht, nach dem Grundgesetz sei das politische System
der Bundesrepublik das einer »repräsentativen parlamentarischen
Demokratie«. Was in prinzipieller Hinsicht jedoch nicht richtig ist.
Richtig ist, dass das
Regierungssystem der BRD ein parlamentarisches
ist, die Demokratie aber sowohl parlamentarisch wie plebiszitär
[komplementär]
[siehe auch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
vom 30. Juni 2009, Absatz 211, siehe hier ›› I.]. Offenbar war die darin
liegende Möglichkeit, demokratische Forderungen auf das
plebiszitäre Element zu stützen, in der Bevölkerung verschlafen
worden - was sich bis 1989 nicht geändert hatte.

[In Parenthese sei an dieser Stelle an das Verdikt von Theodor Heuß
erinnert, das Plebiszit sei schon an sich eine »Prämie auf Demagogie« – ganz
so, als ob Hitler, übrigens auch mit der Stimme von Heuß, nicht durch
das selbst nach allen Regeln demagogischer »Kunst« gewählte Parlament,
sondern durch Volksentscheid an die Macht gekommen und
schließlich mit dem »Ermächtigungsgesetz« zum Diktator installiert
worden wäre! Hitler ist ein Schicksal, das der Parlamentarismus dem
deutschen Volk beschert hat. Hat man deshalb das parlamentarische
System stigmatisiert? Man hat es zu Recht nicht abgeschafft, sondern
aus den Konstruktionsfehlern der »Weimarer« Zeit gelernt. Dass erst
nach 60 Jahren das Bundesverfassungsgericht als erstes der
Verfassungsorgane erkannt hat, dass die Zurückhaltung des
Grundgesetzes gegenüber dem direktdemokratischen Souveränitätsrecht
des Volkes nicht bedeutet, dass dieses in GG Art. 20 Abs. 2 nur für den
Sonderfall einer eventuellen »Neugliederung der Bundesländer« zur Anwendung
kommen dürfe, ist ein Durchbruch zum verfassungsrechtlich wesensgemäßen
Verständnis dieses Artikels [siehe hier ›› I.], wie ihn die »Initiative
1989 – 2009« schon immer verstanden hat und so auch der
aktuellen Petition zu Grunde legt.]

3.6

Das war die Ausgangslage für das Brückenprojekt 1989.
Da feststand, dass weder in der BRD noch in der DDR aus den
Zusammenhängen der politischen Parteien oder gar der Regierungen
an ein dergestalt demokratisch-fundamental begründetes Projekt zum
40. Jahrestag der staatlichen Teilung – als Brücken-Idee – zu denken
war, lag die Verantwortung dafür bei der Zivilgesellschaft als der
einzigen unabhängigen Kraft im geteilten Deutschland.

Wie es dazu kam ist in zwei Memoranden dokumentiert.

Als Idee im Internationalen Kulturzentrum Achberg entwickelt, in dessen
1973 u. a. mit Ota Sik, Eugen Löbl, Iwan Svitak, Mikis Theodorakis, Leif

Hol
k-Hanssen, Boris Tullander, Ossip K. Flechtheim, Heinz Brandt und
Joseph Beuys
gegründeten Institut für Zeitgeschichte in seinen geschichtlichen,
philosophischen, sozialwissenschaftlichen, menschenkundlichen und
verfassungsrechtlichen Aspekten erforscht und begründet und für die
Situation aktions-künstlerisch gefasst, wurde das Projekt im Blick auf
die Termine der beiden Staatsgründungen ausgearbeitet:

>> einerseits für die BRD zum 23. Mai 1989 [mit einer bundesweiten
Kampagne und einer Petition an den Bundestag
] und
>> andererseits für die DDR zum 7. Oktober 1989 [ab Februar 1989
zunächst konspirativ im Kreise von Aktiven der Friedens- und
Menschenrechtsbewegung in Weimar vorbereitet, dann aber ab dem 17. Juni
1989 auch zur Veröffentlichung bestimmt], eine individuell zu zeichnende
»Eingabe« an die Volkskammer [gem. Artikel 103 der Verfassung].

Beide Initiativen waren streng an den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten
und ideologischen Prämissen beider Seiten orientiert; das war ihr geistig-
strategischer Ansatz [= systemimmanente Systemtransformation]. Sie wollten
die Mauer mit einer Brücke überwinden
und waren von der Überzeugung geleitet, dass die Zeit reif sei, die nationale
Frage der Deutschen nach ihrer so unglückselig verlaufenen Nationalgeschichte
jetzt endlich mit einer blockübergreifenden,
direkt-demokratisch fundierten Transformationsstrategie »aufzuheben«, sie in Deutschland heute ihrem Wesen
nach als
soziale Frage zu erkennen, deren Antwort in einem ersten Schritt auf
beiden Seiten die gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Fels der Souveränität
des Volkes
gründen und damit im entscheidenden Punkt bereits jenseits der
Blockkonfrontation des Ost-West-Konflikts angesiedelt sein würde.

Womit im umfassenden Verständnis zugleich die Schlüsselfrage der Gegenwart
schlechthin ergriffen wäre. Das war die geschichtsphilosophische »Logik« des
Projekts.
Sie bildete den Hintergrund der beiden Memoranden, deren
operatives
Ziel aber bewusst nur auf den zeitgeschichtlich fälligen Kardinalpunkt, die Idee
der Volksgesetzgebung, beschränkt blieb. So waren die Memoranden von der
tiefen Überzeugung getragen, dass die Mehrheit der Deutschen künftig ihren
Gemeinwillen in diesem Sinne bilden würden, wenn es gelänge, mit dieser
Sicht der Zusammenhänge ihre Ohren und ihren gesunden Menschenverstand
zu erreichen. Klar war auch, dass das letztlich – 1989 wie heute nicht minder –
von der Frage abhängen würde, ob die Massenmedien den für die Vermittlung
und Prüfung dieser Perspektive notwendigen gesellschaftlichen Diskurs
ausreichend zulassen, ja recht eigentlich ermöglichen und mitgestalten würden.

3.7 

Das Brückenprojekt trug den Namen »D 89« und wurde ab
1987 vorbereitet.
Es ging dabei um ein Geschichtsverständnis,
das zum Zukünftigen weder ein
agnostisches noch ein
prognostisches Verhältnis einnahm, sondern von der Frage geleitet war,
was im Zeitenstrom als
das Angesagte erschien, wenn man den
historischen Ort, an dem das zum legitimierten Handeln
berufene politische Subjekt aufgestellt war, nach der »Logik«
identifizierte, die sich aus dem Kontext ergab, in welchem die
ihn bestimmenden Entwicklungskräfte wirkten und den Charakter
dieses Ortes mit seinen
Aufgaben definierten. Aus dieser
Sicht ergab sich dann
ein Vierfaches. Angesagt war:

>> Zum 1., dass beide deutschen Staaten mit gesteigerter
Aufmerksamkeit ihre 40-jährige Geschichte reflektieren würden.

>> Zum 2., dass das entscheidende politische Subjekt, das jeweilige
Staatsvolk, dabei eben nicht
Subjekt, nicht »Aktivbürgerschaft«
im staatsrechtlichen Sinn, vielmehr das zum Ziel staatlicher
Propaganda degradierte
Objekt sein würde.

Auch wenn das auf beiden Seiten der Form nach ganz unterschiedlich
vonstatten ging, so wäre es doch im Prinzip in der BRD nicht
anders als in der DDR.

>> Zum 3. konnte man aus der hier gewählten geschichtsphilosophischen
»Logik« diesen Anlass als geeignet identifizieren, um die Gegebenheit
der Teilung der Nation mit der ihr zugrun­de liegenden
Systemkonfrontation »Kapitalismus versus Kommunismus«
als Aufgabe zu sehen, und sie dialektisch [also nach
Hegelschem
Philosophieren
, einem Höhepunkt deutschen Denkens in der Neuzeit]
»aufzuheben« in der Erkenntnis einer
Synthese.

>> Zum 4. schließlich zeigte sich im Vorgegebenen der Verhältnisse –
und im Blick auf die gesamte Strecke der neuzeitlichen europäischen
Entwicklung in ihrer widersprüchlichen Gangart –, dass die drei ersten
Aspekte operativ in dem Punkt zusammengeführt werden
mussten und konnten, der sich aus den konstitutionellen Voraussetzungen
der BRD und der DDR auf die Weise ergab, dass jetzt nach 40 Jahren
einer zentrifugal wirkenden Richtkraft die
perspektivische
Konsequenz einer Kraftwende
angesagt werden konnte, um die Souveränität
des Volkes
als Dreh- und Angelpunkt der Demokratie in Gestalt einer
dreistufigen Volksgesetzgebung
zeitgemäß in die verfassungsrechtlichen
Gegebenheiten zu integrieren. Mit dieser
system-symme­trischen
Brücke
wäre zu­gleich der Weg in Richtung der dialektischen
Synthese
des bisherigen Gegensatzes betreten und insofern
die Blockkonfrontation mit einem ersten Schritt verlassen.

 

Wie oben erwähnt, war das Projekt »D 89« in seinem BRD-Teil auf den
23. Mai ausgerichtet. Doch obgleich mehr als zwanzigtausend Menschen
aktiv an der Stimmbrief-Kampagne für eine selbstorganisierte
Volksabstimmung zur Aufnahme der dreistufigen Volksgesetzgebung in
das Grundgesetz
mitwirkten und mehr als zwei Millionen Stimmbriefe
in Zirkulation brachten, nahmen die Massenmedien fast keine Notiz
von dieser Aktion. Dadurch wurde der DDR-Teil des Projektes trotz der
Schwierigkeit, unter den damaligen Verhältnissen konspirativ überhaupt
mit Leuten von »drüben« in Verbindung zu kommen, um mit ihnen die
Projekt-Idee zu beraten und vorzubereiten, immer wichtiger. Weil
angenommen werden konnte, dass die Medien in der BRD das Projekt
sofort an die große Glocke hängen würden, wenn in der DDR auch nur
eine kleine Gruppe Oppositioneller mit dieser Idee an die Öffentlichkeit
ginge – das war erfahrungsgemäß der Verhaltensmechanismus der
Westmedien und ihrer Journalisten, die in der DDR akkreditiert waren;
über diesen Mechanismus, so der Plan, sollte die Idee von der BRD aus
gesamtdeutsch an die Öffentlichkeit gelangen.

Das Kalkül schien aufzugehen: Zwar waren erste Papiere der StaSi in
der Umweltbibliothek in Ost-Berlin in die Hände gefallen, doch auf einem
anderen Weg kam es im Februar zu einem zunächst unbemerkten
Kontakt nach Weimar, der die dann von dort aus sich entwickelnde
Planung der Memorandum-Aktion [siehe Vorwort des Buches
»Wie Goethe und Schiller 1989 versuchten, die DDR zu retten ...«, 2009
und Vorwort zum 10. November 1989 im »Weimarer Memorandum« ebd.]
ermöglichte.
Sie sollte am 17. Juni, also lange bevor dann im Spätsommer
die ersten anderen Initiativen auftraten und die Herbstereignisse
wesentlich mitbestimmten, gestartet werden.

Warum und von wem dieser Plan unterlaufen wurde mit der Folge,
dass das Projekt »Weimarer Memorandum« in der DDR erst am

22. November 89 – als die »Mauer-Falle« bereits zugeschnappt und
die Weichen irreversibel für die westliche »Endlösung« gestellt waren –
zum ersten Mal in der Presse Erwähnung fand, wird [zusammen
mit StaSi-Akten] an anderer Stelle aufgeklärt werden.
Hier mag abschließend genügen, auf Folgendes hinzuweisen:

>> Wenn erstens, wie oben beschrieben und in den ausführlichen Petitions-
texten weiter ausgeführt, im Rahmen des Brückenprojektes »D 89« und
in dem in einer besonderen Weise mit der deutschen Geistesgeschichte
verwobenen »Weimarer Memorandum« die Idee der Volkssouveränität
in ihrer zeitgeschichtlich aktuellen Bedeutung im Zentrum der Intention
dieses Unternehmens als eines »revolutionären« sui generis steht

>> und wenn zweitens dessen Komposition nach Richard Wagners Idee vom
»Gesamtkunstwerk«
mit Einbeziehung von Leitgedanken aus Werken
Goethes [»Was ist herrlicher als Gold? ...«; in Das Märchen, Abs. 221,
1794] und
Schillers [»... sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke,
mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?«
;
in
Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief, 1. Abs., 1794]
gestaltet ist

>> und wenn drittens dann in den Wochen der Kulmination der
Ereignisse im Herbst 1989 für einige Wochen die Devise
»Wir sind das Volk«
wie das geistige Motto des historischen Gesamtvorganges zu wirken
begonnen hatte – also aus dem Volk wie ein »Märchen«-Rätsel
dessen auftauchte, was im hellen Gedankenlicht des »Memorandums«
Wochen zuvor verfasst war und als Inspiration an den Beginn eines
historischen Transformationsprozesses treten sollte – in Erinnerung
an den »Donnerkeil« des Mirabeau vom 17. Juni 1789
[siehe
Weimarer Memorandum, S. 1, Motto. Paradigmatisch, Fußnote zu
Mirabeau
>> Heinrich von Kleist] –, dann kann doch mit Fug und
Recht die Frage gestellt werden:

Welch »heilig öffentlich Geheimnis« [Goethe] mochte
sich in diesem rätselhaften Zusammenhang verbergen?

 Denn es begab sich zu dieser Zeit, dass  das »Weimarer Memorandum«
dann doch – wenn auch erst 20 Jahre später – dort seinen Platz fand, wo es
1989 »zur rechten Zeit am rechten Ort« seinen
Kairos, seine historische Wirkung
hätte entfalten können, sollen und wollen: am Denkmal vor dem Nationaltheater
in Weimar. Es war am 9. November 2009, dem Tag vor Schillers 250. Geburtstag.
»Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.«
[Ode an die Freude, 1785]

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